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Beobachtest du noch oder interpretierst du schon?

Wo dein Blick hinfällt
Schau dir das Bild genau an. Worauf richtest du zuerst deine Aufmerksamkeit? Lässt du deinen Blick in die Ferne schweifen zu den Hügeln oder verweilst du beim Mischwald in der Bildmitte? Oder zieht dich die kleine Schafherde im Vordergrund an? Vielleicht gehörst du auch zu den BetrachterInnen, die das Bild als Ganzes wahrnehmen und sich erst im Anschluss um die Details kümmern.

Wir alle haben unsere Interpretier-Brille an
Wie dem auch sei: Wir alle haben eine bestimmte Art und Weise, unsere Umwelt zu betrachten, zu beschreiben und dem Gesehenen eine Bedeutung beizumessen. Nun bitte ich dich, deinen Fokus auf die Schafe zu richten. Was fällt dir dabei auf? Welche Gedanken dringen in dein Bewusstsein? Gelingt es dir, die Tiergruppe zu beschreiben, ohne zu interpretieren? Beim Beschreiben lässt du jede Wertung weg. Du stellst dir die Gruppe als Gemälde vor, benennst die Anzahl Schafe und deren Ausrichtung zueinander, ihr Aussehen, die Stellung der Ohren, die Blickrichtung, ihre Grösse und ihre Fellstruktur. Du beschreibst die Farben der Landschaft, die Zaunstäbe, die Bodenbeschaffenheit.

Wir alle sind geübt im Interpretieren
Bist du soweit? Dann lass uns jetzt dieselbe Szene interpretieren. Interpretationen finden immer auf dem je eigenen und persönlichen Erfahrungshintergrund statt. Emotionen spielen beim Interpretieren eine wichtige Rolle. Alles, was du bisher mit Schafen erlebt oder erfahren hast, wird in deine Interpretation einfliessen. Sogar deine Hundekenntnisse wirst du vermutlich auf die Schafe übertragen, weil dir das Hundeverhalten vertrauter ist. Auch dein gesamtes Wissen über Schafe wird deiner Interpretation eine bestimmte Richtung oder Note geben. Zudem tragen unsere Spiegelneuronen ihren Teil zur Auslegung dieser Szene bei. Spiegelneuronen sind jene Nervenzellen in deinem Gehirn, die aktiviert werden, wenn du jemanden bei einer Handlung beobachtest, ohne dass du selbst aktiv wirst. Sie sind mitverantwortlich dafür, dass du Empathie empfinden kannst.

So könnte ich zum Beispiel sagen, dass die Schafe in der Mitte von den beiden flankierenden Schafen beschützt werden. Die Gruppe hat sich gebildet, weil die Schafe Angst vor meinen Hunden haben, die am Zaun vorbeigehen. Weiter könnte ich äussern, dass das Schaf links uns bedroht, weil es die Ohren angelegt hat und in unsere Richtung starrt. Und dass die beiden Schafe aussen die Leitschafe sind. Oder die Mutigsten in dieser Gruppe. Kurz: Ich habe keine Ahnung, weshalb die Schafe sich so hinstellen und was es mit ihrem Verhalten auf sich hat.

Beschreiben versus interpretieren
Merkst du, worauf ich hinaus möchte? Werfen wir einen Blick in die uns vertrautere Hundewelt. Wenn ein Hund kläffend an der Leine zieht, hat er eine Leinenaggression. Oder wenn er seitlich an einem anderen Hund hochsteht, ist er dominant. Und wenn er die Vorderkörpertiefstellung macht, möchte er spielen. Vielleicht ist das so, vielleicht aber auch nicht.

Verhalten haben Dimensionen
Um ein Verhalten zu verstehen, müssen wir es zuerst ganz genau erfassen. Wie ist die Topographie des gezeigten Verhaltens, wie schaut das Verhalten genau aus? Dazu muss ich messen, beobachten und beschreiben.

Jedes Verhalten hat Dimensionen: Wie schnell tritt das Verhalten auf nach einem Reiz (Latenz), wie oft tritt es auf (Häufigkeit), wie lange dauert es an (Dauer), wie resistent ist es gegen Störung oder Beeinflussung (Intensität) und welche Variationen sind möglich (Variation)? Was sind die Auslöser für das Verhalten und welches sind die Konsequenzen für den Hund? Welche Motivation liegt dem Verhalten zu Grunde?

Was ist die Funktion des Verhaltens oder: Was hat das Tier davon?
Erst dann können wir uns über die Funktion des gezeigten Verhaltens klar werden, respektive eine Hypothese erstellen, die überprüfbar ist und auch widerlegt werden kann.

Etiketten helfen da nicht weiter
Der Mensch ist so schnell bereit, dem Hund eine Etikette zu verpassen und ihn in eine der üblichen Schubladen zu stecken. Der Mensch möchte einen schnellen Tipp oder Rat, um ein Verhalten abzustellen oder das unerwünschte Verhalten durch ein von ihm erwünschtes Verhalten zu ersetzen. Das kann ich zwar gut verstehen, ist aber leider nicht umsetzbar.

Weniger interpretieren, dafür beobachten lernen
Beobachte deinen Hund im Alltag. Beschreibe einem Freund oder Familienmitglied, was dein Hund genau macht, wenn er ein Loch buddelt oder seinen Kauknochen benagt. Wie ist seine Körperhaltung, wie sind seine Bewegungen, wie ist seine Mimik, welche Geräusche macht er dabei? Woran erkennst du, dass es ihm gerade gut geht? Oder dass er möglicherweise Stress hat? Nimm ein Verhalten aus eurem Alltag und lass jede Bewertung weg. Das ist eine tolle Übung. Beobachte auch deine Mitmenschen. Woran erkennst du, ob ein Mensch traurig ist oder fröhlich? Wie ist die Mimik, die Körperhaltung, die Dynamik seiner Bewegungen? Es ist richtig wohltuend, von der Bewertungsschiene abzuweichen. Probiere es einfach aus.

In diesem Sinne:

«Schule dein Auge und werde zur BeobachterIn und ForscherIn.»

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