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Es gibt alltagstaugliche Übungen und dann gibt es die anderen...

Abrufübung als Spiessrutenlauf
Abrufen durch die Menschen- und Hundegruppe ist eine abgeänderte und in Hundeschulen beliebte «Alltags»-Hundeplatz-Aufgabe aus dem Hundesportbereich (Dort gibt es jedoch nur Menschen ohne Hunde in der Linie). Was bereits einiges über die Alltagstauglichkeit vorneweg nimmt. Zwei Reihen Menschen mit ihren Hunden stehen sich gegenüber und bilden so eine Gasse. Nach dem Motto: «Durch diese hohle Gasse muss er gehen. Es führt kein anderer Weg nach Küssnacht.» (Schiller, Friedrich; aus: Wilhelm Tell).


Tells Gasse aus Hundesicht
Und genauso «hohl» im übertragenen Sinne ist diese Übungsanlage einzuordnen. Vor allem, wenn sie in einem Junghunde- oder Erziehungskurs als Abrufaufgabe präsentiert wird. Der abzurufende Hund wird an das Ende der Gasse gesetzt, der Mensch begibt sich durch die Gasse auf die andere Seite und ruft seinen Hund zu sich. Spiessrutenlauf vom Feinsten für den Hund. Und ich bin sicher, auch du fühlst dich nicht gerade wohl dabei.

Entbehrt jeglichem Alltagsbezug
Sehr alltagsbezogen ist diese Aufgabe mit Sicherheit nicht. Oder hast du deinen Hund im Alltag schon mal durch eine Mensch-Hund-Gasse abgerufen, Hundeplatzstunde ausgenommen? Mir selber ist keine solche Situation in Erinnerung geblieben. Und selbst wenn ich auf unserem Spaziergang auf eine Art Mensch-Hund-Spalier treffen würde, wäre meine erste Reaktion, meine Hunde zu mir zu rufen, sie anzuleinen und einen grossen deeskalierenden Bogen um diese seltsame Ansammlung von Individuen zu machen.

Abrufen aus dem Sitz, einzig als Fun-Aufgabe sinnvoll
Was ich in diesem Zusammenhang auch immer etwas amüsant finde, ist, den Hund hinzusetzen, wegzugehen und ihn dann abzurufen. Natürlich kannst du diese Variante als Fun-Aufgabe in euer Repertoire aufnehmen. Zum Beispiel, indem du einen Dummy auslegst, den Hund hinsetzt, dich entfernst von ihm, dann deinen Hund zu dir rufst und ihn als Belohnung aufs Dummy schickst. Das sind sogenannte Dreiecksaufgaben.

Am Alltag ist das Abrufen aus dem Sitz eher nicht zielführend
Wenn es aber darum geht, einen alltagstauglichen, zuverlässigen Rückruf aufzubauen, gib es definitiv sinnvollere Übungsmöglichkeiten. Oder setzt sich dein Hund hin, bevor du ihn rufst? Anders gefragt: Wie oft sitzt dein Hund auf eurem Spaziergang in der Gegend herum, damit du ihn zu dir rufen kannst? Ich schätze mal eher selten bis gar nicht.
Zudem baust du eine Erwartungshaltung im jungen Hund auf, dass er endlich abgerufen wird, und machst dir so definitiv das ruhige Sitzen und Warten kaputt. Das als kleiner, unerwünschter Nebeneffekt. 

Durch eine Hundegasse rennen zu müssen, ist eine Mutprobe par excellence
Was ich bei der eingangs erwähnten Hundeplatz-Abruf-Aufgabe zudem kritisch hinterfrage, ist das Positionieren der in der Reihe stehenden Hunde neben den Menschen. Die schauen nicht etwa deeskalierend weg, sondern werden fast genötigt, ihren Blick in die Gasse zu richten, wo der arme «Tell-Hund» gleich Spiessrutenlaufen muss. Da würde mir als Junghund auch das Herzchen flattern.

Für die wartenden Hunde sieht es nicht viel besser aus
Für die wartenden Hunde ist der Abstand zu den anderen Hunden meist viel zu klein und der Reiz des vorbeilaufenden Hundes in der Mitte viel zu gross. Wenn denn überhaupt eine derart realitätsfremde Sache gemacht werden muss, dann dreht doch bitte euren Hund mit Blick nach aussen, also weg von der Gasse, damit es die Fellnase in der Mitte etwas leichter hat. Ich denke nicht, dass ein Ersthundehalter in der Lage ist, zu merken, ob sein wartender Hund den Spiessrutenlauf-Hund drohfixiert und ihn dadurch noch mehr am Durchlaufen hemmt oder sonst ein Kabarett veranstaltet.

«Vertrauensfördernd» kann dieser Aufgabe leider auch nicht attribuiert werden
Erkennst du die Zwickmühle, in welche du deinen Hund so bringst? Er muss schnell zu dir rennen, obwohl dein Hund sich lieber in einen Maulwurf mit unterirdischem Gang und Fluchtmöglichkeit verwandeln möchte. Das bringt dir sicher keine Pluspunkte auf eurer Beziehungsskala ein.

Und so schaut es dann im Alltag draussen aus
Vor meinem inneren Auge tauchen gerade zwei Klassiker auf: Mensch setzt Hund neben sich an den Wegrand, weil ein anderes Mensch-Hund-Team vorbeigehen möchte. Der wartende Hund fixiert und schiesst exakt dann nach vorne, wenn der andere Hund auf gleicher Höhe ist. Der vorbeigehende Mensch hat nur gelernt, «durch die Gasse zu gehen.» Dass er als Handlungsvariante einen Bogen machen könnte, um dadurch mehr Abstand zum sitzenden Hund zu gewinnen, ist ihm leider nicht vermittelt worden.
Und der am Wegrand sitzende Hund hat bei der x-ten Durch-die-Gasse-Geh-Wiederholung in der Hundeschule mitbekommen, dass nach vorne in die Leine jucken einfach sehr viel mehr Spass macht, als nett zu sitzen oder seinem Menschen tief in die Augen zu schauen, weil der Hundekollege sich so doll erschrickt dabei. Und dass er mit seinem Verhalten auch jedes Mal einen Erfolg erzielt, erhöht die Wahrscheinilchkeit, in ferner Zukunft sitzen zu bleiben, nahezu auf Null.

Kritisches Hinterfragen der sogenannten Alltags-Übungen auf dem Hundeplatz
Ich empfehle dir, «Alltags-Übungen» auf dem Hundeplatz kritisch zu betrachten und nach dem Sinn dahinter zu fragen, wenn dieser sich dir und deinem Hund nicht offenbart. Zumal Alltag auf dem Hundeplatz sowieso ein Widerspruch in sich selbst ist. Und wenn dann auch noch in jeder Lektion dieselben Menschen mit ihren Hunden vor Ort sind, hat das mit Alltagstraining so wenig zu tun wie Mars mit Venus.

Du merkst im Alltag selber, ob es funktioniert oder nicht
Spätestens im Lebensalltag wirst du merken, welche Übungen höchstens als Zirkusnummer Furore machen und welche über positive Verstärkung aufgebauten Verhalten sich bewähren. Es sind die Verhalten, welche für deinen Hund funktional, also der Situation angepasst und sinnhaft erscheinen und ihm ein gutes Gefühl vermitteln. Der Rückruf ist dann funktional, wenn der Hund gerne zu dir kommt und wenn er so gestaltet wird, dass die Situation dem Hund überhaupt ermöglicht, freudig auf dich zuzurennen. Schnell durch eine gaffende und fixierende Hundegasse zu preschen, gehört da mit Sicherheit nicht dazu.

 

In diesem Sinne:

«Sinnvolle Übungen unterstützen das erwünschte Verhalten und hemmen es nicht.»

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